Die Pädagogischen Lesungen in der DDR 1950-1989

Forschung - Forschungsprojekte - Sonderpädagogik

Wandfries "Unser Leben" (Detail) von Walter Womacka am Haus des Lehrers, Berlin
Wandfries "Unser Leben" (Detail) von Walter Womacka am Haus des Lehrers, Berlin

Die so genannten Hilfsschulen der DDR waren Teil eines differenzierten Sonderschulsystems für körperlich und geistig behinderte Schulpflichtige.
Ihre Etablierung und ihr Betrieb  über die verschiedenen Entwicklungsetappen des ostdeutschen Bildungssystems hinweg sind bislang wenig erforscht.
Vertiefende Einblicke in die pädagogische Arbeit an den Hilfsschulen liefern die Pädagogischen Lesungen – sie zeichnen ein Bild des Ringens um differenzierten Unterricht, der der starken Heterogenität der Schülerschaft in den so genannten A- und B-Zügen gerecht zu werden versucht.

Die ‚anderen Kinder‘ in der DDR – Zeitgenössische Quellen und literarische Texte als Quelle für die Neuaufnahme, Ergänzung und Revision der Diskussion zum Umgang mit geistig behinderten Kindern

Das Projekt untersucht zunächst den (institutionellen) Umgang mit geistig behinderten Kindern in der DDR und beschreibt dessen Entwicklung von 1945-1989, indem  diesbezüglich relevante Handlungsebenen rekonstruiert und analysiert  und die wechselseitige Bedingtheit der Teilsysteme beschrieben werden. Das sich damit abzeichnende Bild wird durch die Alltagswirklichkeit betroffener Eltern und Professioneller, wie sie zeitgenössische literarische und nichtfiktionale Texten beschreiben, illustriert, ergänzt und kontrastiert. Die auf dieser Basis vollzogene Zusammenführung der verschiedenen Fach- und Alltagsdiskursebenen zeigt, dass die bisherige Diskussion zum Umgang mit geistig behinderten Menschen in der DDR um wesentliche Facetten erweitert und in einigen Teilen relativiert werden muss.

Reformpädagogik in der DDR – Eine kritische Betrachtung anhand der Pädagogischen Lesungen für Hilfsschulen

Sowohl im gesellschaftlichen Narrativ als auch in fachwissenschaftlichen Darstellungen wird das DDR-Bildungssystem als wenig fruchtbarer Boden für reformpädagogische Ansätze beschrieben. Bei genauerer Betrachtung bedarf diese Einschätzung jedoch mehrerer Korrekturen. Der Beitrag gibt zunächst einen kurzen Abriss der Entwicklungsphasen des DDR-Bildungssystems und skizziert differenziert das jeweilig vorherrschende Verhältnis zur Reformpädagogik. Dabei werden wesentliche Einflüsse reformpädagogischen Gedankengutes auf das DDR-Bildungssystem ebenso sichtbar wie deutliche Differenzlinien. Im zweiten Teil wird die pädagogische Praxis im DDR-Hilfsschulsystem anhand ausgewählter Pädagogischer Lesungen betrachtet.

Jenseits des ‚normalen Lebens‘ – Held*innen mit Beeinträchtigungen in der Jugendliteratur der DDR und ihre volksbildende Wirksamkeit

Das Abrücken von der Präsentation vorbildhafter sozialistischer Persönlichkeiten in der Kinder- und Jugendliteratur der DDR der 1970er und 1980er Jahre bringt eine zunehmende literarische Thematisierung von Menschen mit Beeinträchtigungen mit sich. Innerhalb weniger Jahre erscheint eine ganze Reihe von Jugendromanen, deren Hauptfiguren eine Beeinträchtigung haben, die ihr Leben entscheidend prägt. Der hier vorgelegte Beitrag untersucht exemplarisch die Rezeption von vier dieser Texte in der DDR, um zu ermitteln, inwieweit sie dazu beitragen konnten, den damals sogar von staatlichen Stellen beförderten Diskurs über den Umgang mit beeinträchtigten Menschen an die Schulen zu tragen. Die Pädagogischen Lesungen als idealisierende Abbilder realen Unterrichts fungieren als maßgebliche Quelle, wenn es darum geht, Themenfindungen und Thematisierungen jenseits der Lehrplanvorgaben auszuloten. Anhand ihrer Auswertung ermittelt der Beitrag, inwiefern aktuelle Neuerscheinungen aus DDR-Verlagen unterrichtliche Kommunikationsanlässe für die Verhandlung von den eigenen Alltag betreffenden Problemen waren. Dabei erweist sich, dass das ansonsten in dieser Zeit recht präsente und breit rezipierte Thema „Menschen mit Beeinträchtigungen“ im Literaturunterricht der DDR trotz passender literarischer Angebote weitestgehend abwesend bleibt.

Zwischen Drill und Lagerfeuerromantik – Wehrerziehung und Wehrunterricht an Hilfsschulen der DDR im Spiegel der Pädagogischen Lesungen

Im Schuljahr 1978/79 wird ein Unterrichtsfach Wehrerziehung an Allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschulen (POS) der DDR eingeführt. Mit diesem Schritt erreicht die Integration wehrerzieherischer Elemente in die Bildungsbiografie junger Menschen ihren Höhepunkt. An den Hilfsschulen des Landes allerdings wird dieses Fach nicht curricular verankert – hier findet Wehrunterricht erst im Rahmen der beruflichen Ausbildung statt. Bis heute ist nur wenig darüber bekannt, wie Wehrerziehung und Wehrunterricht bei Jugendlichen mit kognitiven Beeinträchtigungen gestaltet wurden. Hinweise darauf finden sich in bisher nicht analysierten Erfahrungsberichten, den Pädagogischen Lesungen.

Hier werden die theoretischen Postulate der Wehrerziehung im schulischen Kontext der Hilfsschule ebenso beschrieben wie das didaktisch-methodische Vorgehen unter Berücksichtigung der kognitiven Beeinträchtigungen. Als zentraler Ankerpunkt erweist sich ein spezifischer Integrationsbegriff, der die Verteidigung des Vaterlandes sowohl zur Pflicht eines in die Gesellschaft integrierten Menschen macht als auch zu einem zentralen Element des Gelingens von Integration. Zur Kontextualisierung der Thematik stellt der vorliegende Beitrag zunächst die Entwicklung der schulischen Wehrerziehung für Kinder und Jugendliche bis hin zum Wehrunterricht dar und präsentiert anschließend Lehrwerke, -pläne und Unterrichtshilfen zum Thema Wehrunterricht.

Das Fernsehformat „Von Pädagogen für Pädagogen“ von 1970 bis 1982

Die DDR-Pädagog*innen adressierende Sendereihe „Von Pädagogen für Pädagogen“ wurde 1970 etabliert und in dieser Form über dreizehn Jahre hinweg in ungefähr monatlichen Intervallen ausgestrahlt. Der hiermit vorgelegte Beitrag verortet die Sendung innerhalb der Weiterbildungslandschaft der DDR und bemüht sich um die Rekonstruktion von Sendungsentstehung und -weiterentwicklung. Letztere bietet auch deshalb einen wertvollen Einblick in das Aus- und Weiterbildungssystem der DDR, weil sie sich im Kooperations- aber durchaus auch Spannungsfeld zwischen Ministerium für Volksbildung, Akademie der Pädagogischen Wissenschaften (APW), Zentralinstitut für Weiterbildung (ZIW) und den DDR-Schulen (sowohl in der Funktion als Mitproduzenten als auch als Rezipienten) vollzog. Es wird deutlich, dass das Format stark von ministerialen Vorgaben beeinflusst war, sich gleichzeitig aber auch dem Urteil der Lehrer*innen hinsichtlich seiner praktischen Relevanz stellen musste, um die intendierte Funktion – eine Weiterbildung jenseits der organisierten Veranstaltungen – erfüllen zu können. Die Betrachtungen machen außerdem deutlich, dass die beiden mit der Organisation beauftragten Institutionen (zunächst die APW, dann das ZIW) hierbei durchaus eigene Perspektiven beisteuerten und damit nicht auf die Rolle der Ausführenden von Ministeriumswünschen reduziert werden können. Das Ergebnis der Kooperation war eine Sendereihe, die ein – wissenschaftlich fundiertes – Wunschbild von DDR-Unterricht präsentierte. Gleichzeitig nutzte sie aber auch das Feedback von Praktiker*innen zur Optimierung und ist damit als Dokumentation von durch die Praxis akzeptierten (aber nicht notwendig implementierten) Bildungsidealen einzuordnen.

Veröffentlichungen zum Thema Sonderpädagogik:

Katja Koch, Kristina Koebe (2019). Die "anderen Kinder" in der DDR - Zeitgenössische Dokumente und literarische Texte als Quelle für die Neuaufnahme, Ergänzung und Erweiterung der Diskussion zum Umgang mit geistig behinderten Kindern. In. Zeitschrift für Heilpädagogik 12, 612-622.

Koch, K. & Koebe, K. (2019).  Die ‚anderen Kinder‘ in der DDR – Zeitgenössische Quellen und literarische Texte als Quelle für die Illustration, Ergänzung und Relativierung der Diskussion zum Umgang mit geistig behinderten Kindern. In. Schriftenreihe der Arbeitsstelle Pädagogische Lesungen an der Universität Rostock 4 (2019) 1. https://doi.org/10.18453/rosdok_id00002723 siehe auch: http://www.pl.uni-rostock.de/schriftenreihe

Koch, K. & Koebe, K. (2019). Reformpädagogik in der DDR – Eine kritische Betrachtung anhand der Pädagogischen Lesungen für Hilfsschulen In: Schriftenreihe der Arbeitsstelle Pädagogische Lesungen an der Universität Rostock 3 (2019) 1. https://doi.org/10.18453/rosdok_id00002722 siehe auch: http://www.pl.uni-rostock.de/schriftenreihe

Koch, K. & Koebe, K. (2020).  Jenseits des ‚normalen Lebens‘ – Held*innen mit Beeinträchtigungen in der Jugendliteratur der DDR und ihre volksbildende Wirksamkeit. In. Schriftenreihe der Arbeitsstelle Pädagogische Lesungen an der Universität Rostock 6 (2020) 2. https://doi.org/10.18453/rosdok_id00002760 siehe auch: http://www.pl.uni-rostock.de/schriftenreihe

Koch, K. & Koebe, K. (2021). Die Erweiterung der DDR-Lehrer*innenweiterbildung um das Fernsehformat „Von Pädagogen für Pädagogen“ von 1970 bis 1982. In. Schriftenreihe der Arbeitsstelle Pädagogische Lesungen an der Universität Rostock 14 (2021) 3. https://doi.org/10.18453/rosdok_id00003380 siehe auch: http://www.pl.uni-rostock.de/schriftenreihe

Koch, K. & Decker, C. (2021). Zwischen Drill und Lagerfeuerromantik – Wehrerziehung und
Wehrunterricht an Hilfsschulen der DDR im Spiegel der Pädagogischen Lesungen. In. Schriftenreihe der Arbeitsstelle Pädagogische Lesungen an der Universität Rostock 11 (2021) 3. https://doi.org/10.18453/rosdok_id00002954

Koch, K. & Koebe, K. (2022) “By educators for educators” – an introduction to a GDR education television project for teachers (1970–1982), Paedagogica Historica, S. 1-21. DOI: 10.1080/00309230.2022.2032771

Koch, K. & Koebe, K. (2022). Die Betreuung geistig beeinträchtigter Kinder in der DDR in den 1970er und 1980er Jahren – eine exemplarische Illustration. In. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete-VHNplus.08.07.2022. http://dx.doi.org/10.2378/vhn2022.art32d.

Koch, K. & Koebe, K. (2022). Der Übergang vom Kindergarten zur Schule in der DDR im Spiegel der Pädagogischen Lesungen. In. Schriftenreihe der Arbeitsstelle Pädagogische Lesungen an der Universität Rostock 17 (2022) 4. https://doi.org/10.18453/rosdok_id00003770 siehe auch: http://www.pl.uni-rostock.de/schriftenreihe

Katja Koch & Kristina Koebe (2022) The Pedagogical Readings as a unique historical source for research on the pedagogical work with disabled pupils in the GDR educational system, History of Education, DOI: 10.1080/0046760X.2021.1984590

Kontakt Prof. Dr. Katja Koch